Wie verändert die Demografie unsere Demokratie?

Vortrag aus Anlass des 5jährigen Bestehens der Parlamentarischen Vereinigung Niedersachsen am 19. 4. 2010 im Landtag in Hannover

 

I. Eingrenzung des Themas

Für das mir gestellte Thema gibt es eine nicht mehr überschaubare Fülle von Literatur. Die gründlichsten und zugleich voluminösesten Papiere sind die Ergebnisse der Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2002 (1) und des Niedersächsischen Landtages aus dem Jahre 2007 (2).

Eigentlich weiß man alles, was man zu diesem Thema seriöser Weise sagen kann. Das Problem ist das Problem- Bewusstsein und die angemessene Rezeption dieses Wissens bei den Handlungsträgern und in der Bevölkerung.

Es gibt, um sogleich die Hauptkritik zu formulieren, noch kein Bewusstsein davon, dass die demografische Entwicklung und ihre Folgen kein Altenthema ist, sondern die gesamte Gesellschaft von Jung bis Alt betrifft.

Dabei sind die Auswirkungen auf die Demokratie nicht nur Haushaltsfragen oder institutionelle Auswirkungen auf Parteien, Parlamente, Bürgermeister oder Regierungen, sondern betreffen die Mentalität und Einstellungsparadigmen.

 

II. Worum geht es? Einige Daten

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag das Durchschnittsalter der Frauen bei 48, bei Männern bei 45 Jahren (Kindersterblichkeit, körperlicher Verschleiß durch schwere Arbeit, Medizinische Indikationen).

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt das Durchschnittsalter bei Frauen bei 82, bei Männern bei 77. Unsere Enkel/innen dürfen sich ausrechnen, 90 Jahre und älter zu werden.

Wir können damit einen Zugewinn an Lebensjahren mit steigender Tendenz und bei besserer Gesundheit konstatieren.

Vor 100 Jahren hatte ein 60-Jähriger durchschnittlich noch 13 Lebensjahre vor sich, heute 24 Jahre.

Wer also heute 60 Jahre alt ist, hat gerade 2/3 seines Lebens hinter sich. Allerdings sind die Alterschancen sozial ungleich verteilt. Geringe Renten und geringes Lebenseinkommen führen zu einer 5-jährigen geringeren Lebenserwartung. Gründe dafür sind immer noch schwere und ungesunde Arbeit, falsche Ernährung, ungesunde Lebensweise wie Rauchen und übermäßiges Trinken, mangelnde Bewegung, geistige Trägheit.

Wichtig ist die Beobachtung, dass die 60- 80plus-Jährigen im klassischen Sinne nicht mehr dem Altersbild entsprechen, das sich in Jahrhunderten ausgeprägt hat und das die Mentalität und damit die Handlungsmotivationen der nachwachsenden Generationen bestimmt. Die sog. Hinfälligkeit setzt durchschnittlich erst später ein.

Während sich einerseits die Lebenszeit verlängert, sinkt andererseits in unserm Land die Geburtenrate dramatisch. Vor 100 Jahren bekamen die Frauen im Durchschnitt noch 5 Kinder, heute sind es 1,5. Dies zusammen führt in den nächsten Jahrzehnten zu einer Verschiebung des Altersaufbaus. Im Jahre 2050 wird es in Deutschland weniger als 15 % unter 20 Jahren, aber mehr als 40 % über 60-Jährige geben. Mit den daraus erfolgenden Umstrukturierungen müssen sich auch die beschäftigen, die heute noch Kinder sind oder noch gar nicht geboren wurden.

Dies ist ein menschheitsgeschichtlich neues Phänomen. Auch wenn man berücksichtigt, dass es in Asien und Afrika, verschoben in Amerika, heute noch überaus junge Gesellschaften gibt, so ist der Trend des Älterwerdens und geringer werdender Geburtenzahlen ein weltweites Phänomen.

Diese einfache Überlegung zwingt zu der Einsicht, dass Offenheit, neues Denken und Handeln unausweichlich sind.

III. In welchen Bereichen gibt es Veränderungen und entsprechenden Handlungsbedarf ? Dies kann hier nur stichwortartig geschehen:

-  Arbeit (Arbeitszeiten, Renteneintrittsalter, Qualifikation, Innovationsbedarf, Umstrukturierung der Arbeitsplätze, Flexibilität des Lebensrhythmus im Verhältnis Lerne- Arbeiten- Weiterbildung etc., Betriebe genauso in Verantwortung wie der Einzelne)

-  Bildung (Lernen lernen in der Kindheit ist Voraussetzung für Motivation und Fähigkeit lebenslangen Lernens, Weiterbildung als notwendiger Prozess der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit)

-  Gesundheit (Moderne Medizin, wachsende Bedeutung der Prävention, Ernährungs- und Bewegungsverhalten)

-   Krankenversorgung ( Modernisierung der Krankenhäuser, Ambulante Dienste, Beratung)

-  Pflege (von heute etwa 2 Millionen auf 8 Millionen im Jahre 2050, im Wesentlichen über 85-Jährige, Vermehrung der Pflegeeinrichtungen und des geschulten Personals)

-  Wohnungsbau (Der gesamte Bereich der näheren Umwelt für die Menschen muss sich darauf einstellen, dass nicht nur die Wohnungs-, sondern auch die Städteplanung, Raumplanung einen längeren Lebenszyklus im Blick haben. Demografische Durchmischung überall wünschenswert, da damit auch Synergieeffekte für den ehrenamtlichen Bereich bewirkt werden)

-   Konsumverhalten (Ernährungsgewohnheiten, Portionen, Produktorientierung ändern, spezifische Angebote, Bedürfnisse der älter Werdenden ernst nehmen, Werbung ändern, Tourismus)

-  Familien (Da Familien immer noch den stärksten Zusammenhalt darstellen, sollten die Lebensbedürfnisse und -umstände so aufeinander abgestimmt werden, dass die Jüngeren nicht über Gebühr in Anspruch genommen werden und die Älteren nicht nur als Hilfsbedürftige erscheinen. Gegenseitige Hilfe wo möglich, auch bei multilokaler Gesamtfamilie, weil Ältere lange sehr mobil)

-  Mobilität (Die Mobilitätsfähigkeit ist bis ins hohe Alter zu stabilisieren, besonders auf dem Lande ein Problem, geeignete Fahrzeuge und Straßenbauplanung, Reisefreude)

-   Technik (Moderne Technik zu sehr auf Wechsel und Jugend eingestellt, lebenserleichternde Funktion der Technik, längere Selbständigkeit möglich).

-   Medien (Immer mehr Ältere verfügen über gute Computerhandhabungskenntnisse und Internetzugang. Die neuen sozialen Räume (Facebook etc.) ermöglichen neue Kontakte und überwinden Einsamkeit.

-   Kulturelle Teilhabe (Gerade die längere und gesunde Phase des Lebens ermöglicht einen intensiveren passiven und aktiven Gebrauch des kulturellen Lebens, weil das Zeitkontingent größer und flexibler ist. Darauf muss sich die gesamte Gesellschaft einstellen).

Wenn man all diese Probleme zusammendenkt, dann wird klar, dass es sich nicht nur um ein Altenproblem handelt, sondern jede Generation betroffen ist. Die alternde Gesellschaft stellt sich somit als eine besonders dynamische Gesellschaft heraus. Indem sich die jüngere Gesellschaft darauf einstellt, stellt sie sich auf die eigene Zukunft ein. Insofern ist Politik für die Alten heute Prävention für die heute jüngeren Menschen.

IV. Legenden über das Alter oder die Notwendigkeit der Veränderungen des Denkens

Die Lebensgestaltung der Menschen hängt davon ab, welches Selbstbild sie von sich und anderen Menschen haben. So ist es bis heute konstitutiv für die Lebenshaltung und Lebensplanung, dass man von einer Drittelung des Lebens ausgeht:

Phase des Lernens und der Ausbildung (Kindheit, Jugend)

Phase des Berufs (25/30 - 60/65)

Phase des Ruhestands 60 plus

Diese Einteilung geht mit bestimmten Rollenzuweisungen für sich und andere einher. Die heute 60 bis 80 Jährigen sind selbst Kinder des Jugendwahns der 60er Jahre und insofern überrascht über die subkutan abwertende Grundhaltung gegenüber Älteren.

Es gibt in der Gesellschaft scheinbar unausrottbare Legenden über das Alter, deren Infragestellung die Voraussetzung für die Freisetzung von Energien für den gesamtgesellschaftlichen Umbau ist.

Ich zitiere und ergänze nur unwesentlich im Folgenden die 15 Legenden über das Alter, die in der vorzügliche Studie „ Gewonnene Jahre - Empfehlungen der Akademiengruppe - Altern in Deutschland“, die von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, herausgegeben worden ist, zusammengefasst sind. (3)

15 Legenden über das Alter:

Legende 1: „Das Alter beginnt mit 65 Jahren.“ Falsch.

Die Vorstellung, das Alter würde mit einem bestimmten Lebensjahr beginnen, ist zwar alt, aber dennoch eine soziale Konstruktion. Sie stammt aus der antiken Welt, hat in Europa im Mittelalter und in der Neuzeit weitergelebt und ist auch in außereuropäischen Kulturen verbreitet. Die wenigsten Menschen wussten früher genau, wie alt sie waren, und es war für ihre Lebens- und Arbeitswelt auch nicht relevant. Mit dem modernen Staat, mit der industriellen Arbeitswelt und mit den Rentensystemen des 20. Jahrhunderts haben kalendarische Altersgrenzen praktische Wirkung für alle erlangt. Heute werden sie mehr und mehr fragwürdig: Sie ignorieren, dass immer mehr Menschen in immer höherem Alter zu einem aktiven und selbstbestimmten Leben fähig sind.

Legende 2 „ Wenn man das kalendarische Alter kennt, weiß man viel über eine Person “ Falsch.

Je älter wir werden, desto weniger aussagekräftig wird das kalendarische Alter. Während gleichaltrige Babys und Kleinkinder ihre Fertigkeiten und Bedürfnisse mit nur wenigen Monaten Unterschied erwerben und ausbilden, nehmen die Unterschiede zwischen den Erwachsenen immer mehr zu. Bis ins Jugendalter hinein erlaubt das kalendarische Alter recht gute Rückschlüsse, aber im Erwachsenenalter vergrößern sich die Unterschiede zwischen den Individuen zunehmend, da menschliche Entwicklung nicht im Abspielen eines festgelegten Programms besteht, sondern aus der kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen biologischen, kulturellen und persönlichen Einflüssen entsteht. Das schließt natürlich nicht aus, dass Einzelne für sich selbst aufgehört haben zu lernen und dadurch Muster aus vergangenen Jahrzehnten einfach weitergelebt werden. In der Rezeption von Musik und Moden ist dies besonders eklatant. Im Alter sind die Unterschiede zwischen den Menschen gleichen Alters dann so groß, dass ein 70-Jähriger geistig ebenso leistungsfähig sein kann wie ein 50-Jähriger, aber ebenso ein 70-Jähriger aussehen und sich fühlen kann wie ein 50­Jähriger. Gleichwohl scheint es so, als ob manche Ältere in Verhalten und Kommunikationsgewohnheiten, Wertungen und Reaktionen sehr unbeweglich sind.

Legende 3: „Alte Menschen können nichts Neues mehr lernen.“ Falsch.

Solange der Mensch lebt und nicht durch Krankheit stark beschränkt ist, kann er Neues lernen. Lernen und Veränderung hängen aber auch von den Ressourcen und den Anreizen ab, die einer Person zur Verfügung stehen. Erwachsene lernen besonders gut, wenn sie einen konkreten Nutzen erkennen und das neue Wissen anwenden können. Die Bereitschaft, im Erwachsenenalter zu lernen, ist vor allem auch abhängig von der Vorbildung.

Legende 4: „Ältere Beschäftigte sind weniger produktiv." Falsch (in dieser allgemeinen Formulierung).

Ältere und jüngere Beschäftigte unterscheiden sich in ihren Stärken und Schwächen. Ältere Beschäftigte mögen körperlich weniger kräftig und weniger reaktionsschnell sein, dafür haben sie im Allgemeinen, mehr Erfahrung, soziale Fertigkeiten und Alltagskompetenz. Das muss man deshalb betonen, weil man Erfahrung nicht studieren kann oder in Weiterbildunsgkursen kurzfristig implantieren könnte. Produktivität hängt davon ab, wie diese Fähigkeiten für die jeweilige Tätigkeit gewichtet sind und wie sie zum jeweiligen Arbeitsplatz passen. In Betrieben, in denen die Wertschöpfung präzise gemessen werden kann, zeigt sich, dass Arbeitsteilung und -organisation altersspezifische Vor- und Nachteile bis zur gegenwärtigen Altersgrenze in etwa ausgleichen. Im Übrigen nehmen auch die Krankheitstage nicht zu, wie ein weiteres gängiges Vorurteil lautet. Ältere Arbeitnehmer fehlen zwar länger, wenn sie einmal krank sind, werden aber seltener krank als Jüngere. Jüngere und Ältere unterscheiden sich auch nicht darin, wie häufig sie Verbesserungen und Innovationen vorschlagen.

Legende 5: „Alte Menschen wollen mit moderner Technik nichts zu tun haben." Falsch.

Auch sehr alte Menschen nutzen Technik gerne, wenn sie ihnen den Alltag erleichtert und ihnen dabei hilft, ihre Ziele zu erreichen. Viele ältere Menschen können dank technischer Unterstützung ihren eigenen Haushalt führen und sich in ihrem außerhäuslichen Umfeld besser zurechtfinden. Technik kann die Auswirkungen altersbedingter Einbußen und Einschränkungen vermeiden, hinauszögern, ausgleichen und abschwächen, indem sie Fähigkeiten trainiert, Alltagskompetenzen unterstützt und Vitalfunktionen überwacht. Sie kann die Gewohnheiten und Vorlieben der Nutzer erlernen und bei Bedarf unterstützen. Außerdem ist sie ein Tor zur Welt auch für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Immer mehr ältere Erwachsene nutzen das Internet.

Da dies möglich ist, aber immer von der Lernbereitschaft und geistigen Flexibilität abhängt, müssen die Menschen in ihrem ganzen Leben diese ganzheitliche Lernbereitschaft pflegen. Die neuen sozialen Räume im Internet erschließen vielen Älteren neue Beziehungen und sind ein wirksamer Schutz gegen Vereinsamung.

Legende 6: „Die Alten nehmen den Jungen die Arbeitsplätze weg." Falsch.

Die verstärkte Beschäftigung älterer Arbeitnehmer steht in der Volkswirtschaft nicht grundsätzlich in Konkurrenz zu einer verstärkten Beschäftigung jüngerer Arbeitnehmer, sondern kann sie im Gegenteil sogar fördern. Denn über eine Senkung der Lohnnebenkosten und auf Grund niedrigerer Sozialversicherungsbeiträge trägt sie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu gesteigertem wirtschaftlichem Wachstum bei. Frühverrentung hingegen belastet durch höhere Sozialversicherungsbeiträge auch die jüngeren Arbeitnehmer und steigert die preisbedingte Absatzschwäche der Produkte Beides zusammen verringert die Beschäftigung. Ganz in diesem Sinne zeigt es sich auch, dass in OECD- Ländern mit hoher Frühverrentungsquote (z. B. Frankreich, Italien, Griechenland) die Jugendarbeitslosigkeit nicht etwa besonders niedrig, sondern besonders hoch ist.

Die Legende 6 ist auch nur dann relevant, wenn es scheinbar zu wenig Arbeit gibt. In Wahrheit besteht unter Ökonomen und Politikern kein Streit, dass wir in den nächsten Jahrzehnten mehr Arbeitskräfte in der Wirtschaft brauchen, wozu auch alle geeigneten und potentiell geeigneten Älteren zählen müssen.

Legende 7: „Volkswirtschaften mit alternder Bevölkerung sind zum Nullwachstum verdammt.“ Falsch.

Unabhängig von der Problematik der Indikatoren für die Feststellung des BIP ist richtig, dass das Wirtschaftswachstum vom Wachstum der Anzahl der Beschäftigten und deren Arbeitsstunden ab. Die Arbeitsproduktivität sinkt keineswegs unabänderlich mit dem Alter der Beschäftigten (vgl. Legende 4). Durch verstärkte Aus- und Weiterbildung und durch erhöhten Einsatz von Maschinen und Computern kann sie sogar weiter verbessert werden. Auch die Anzahl der Beschäftigten muss nicht notwendigerweise sinken, wenn mehr alte Menschen in der Gesellschaft leben. Wir haben in Deutschland im internationalen Vergleich ein niedriges Niveau der Beschäftigung von Frauen und älteren Menschen. Wenn man über die nächsten 25 Jahre die Erwerbsquoten in Deutschland und die der Nachbarn Dänemark und

Schweiz angleicht, kann der Altersstrukturwandel fast vollständig ausgeglichen werden. Ob wir auch in Zukunft das gleiche Wirtschaftswachstum wie heute oder ein Nullwachstum haben werden, hängt also ganz entscheidend von unseren Anstrengungen ab, höhere Beschäftigungsquoten zu erzielen und die Beschäftigten besser aus- und weiterzubilden.

Legende 8: Ältere Arbeitnehmer müssen durch besondere Regeln geschützt werden.“ Falsch (in dieser Pauschalität).

Ein starker Schutz der Älteren, die einen Arbeitsplatz besitzen („Insider“) kann sich gegen diejenigen älteren Menschen wenden, die keinen Arbeitsplatz haben oder ihn gerade verloren haben („Outsider“). Soweit Betriebe beispielsweise davon ausgehen, dass ältere Arbeitnehmer einem erhöhten Kündigungsschutz unterliegen, werden sie bei der Neueinstellung von Arbeitnehmern jüngere Arbeitnehmer mit geringerem Kündigungsschutz vorziehen, um so eine höhere Flexibilität des Personalbestandes zu behalten. Von diesen Überlegungen bleiben die Vorschriften des allgemeinen Arbeitsschutzes und der Einstellung von Behinderten (auch älteren) unberührt.

Legende 9: Steigende Lebenserwartung bedeutet mehr Krankheit und Pflege." Falsch ( in dieser Generalität).

Gesundheitliche Einschränkungen und chronische Behinderung im Alter haben sowohl bei Männern als auch bei Frauen im Vergleich zu früheren Jahren abgenommen. Die durchschnittliche gesunde Lebenszeit jenseits des 65. Lebensjahres ist allein in der Dekade der 1990er um zweieinhalb bzw. eineinhalb Jahre gestiegen (Männer/Frauen). Durch die starke mediale Präsenz der dementen und schwer kranken Menschen im hohen Alter jenseits des 80. Lebensjahres erscheint dies nicht so. Aber Schlaganfall oder Herzinfarkt werden dank des medizinischen Fortschritts heute öfter überlebt. Beeinträchtigungen durch diese Erkrankungen werden seltener, und sie können mit modernen technischen und medizinischen Hilfsmitteln heute besser ertragen werden. Die Lebensqualität ist trotz chronischer Krankheit und/oder Behinderung besser als früher. Insgesamt hat das Risiko, pflegebedürftig zu werden, in Deutschland in den letzten Jahren abgenommen.

Legende 10: Prävention und Rehabilitation können im Alter nichts mehr bewirken." Falsch.

Prävention und Rehabilitation sind in allen Lebensphasen, aber gerade auch im Alter unerlässlich und effektiv. Alte Menschen profitieren enorm von gezielter und früh einsetzender Rehabilitation etwa nach einem Schlaganfall, Herzinfarkt oder Sturz. Behinderung und Pflegebedürftigkeit können dadurch oft verhindert werden. Gesunde Ernährung körperliche Aktivität, Nicht-Rauchen und Schutz vor Passivrauchen sind die Grundpfeiler von Gesundheitsförderung und Prävention. Deshalb sollte auf individueller und staatlicher Ebene alles getan werden, um besseres Ernährungsverhalten, mehr körperliche Aktivität und weniger Zigarettenkonsum in der Bevölkerung zu erreichen. Die individuelle Leistungsfähigkeit ist keine statische Eigenschaft, sie kann und muss durch Aktivität und Lebensweise erhalten oder immer wieder hergestellt werden.

Legende 11: „Alt sein führt zu geringerer Mobilität. “ Falsch.

Ältere Menschen sind vielfältig mobil, wenngleich sich die Mobilitätszwecke verändern. Mobilität und Aktivität stehen in einem engen Wechselverhältnis. Das gilt für die alltäglichen Mobilitätsformen und die Wohnortwechsel im Lebensverlauf. Allerdings sind oft die Mobilitätsbedürfnisse der Alten und die Mobilitätsangebote ihrer Umgebung nicht richtig aufeinander abgestimmt. So werden ältere Menschen zu früh und gezwungenermaßen immobil, bewegen sich weniger in der Öffentlichkeit, nehmen weniger Angebote wahr. Und leben mit einer Infrastruktur, die nicht optimal für eine Gesellschaft aller Alter eingerichtet ist.

Legende 12: „Alte Menschen fallen ihren Angehörigen zur Last.“ Falsch.

Insgesamt unterstützen alte Menschen ihre Angehörigen in der Regel mehr, als sie von ihnen unterstützt werden. Das geschieht finanziell, aber auch in Form praktischer Hilfe, z. B. durch Mithilfe im Haushalt und durch die Betreuung der Enkelkinder, wenn die Eltern abwesend sind. Wenn man die finanziellen Leistungen zwischen den Generationen in der Familie und den Geldwert solcher Arbeitsleistungen zusammenrechnet, so sind die Älteren bis zum 80. Lebensjahr die Gebenden, erst danach überwiegt das Nehmen. Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass junge Erwachsene die Schwierigkeiten des Berufseinstiegs und der Familiengründung besser meistern können. Darüber hinaus engagieren sich die Älteren auch in beträchtlichem Maße im ehrenamtlichen Bereich und ermöglichen dadurch Aktivitäten für alle Generationen.

Legende 13: „Ein Kampf der Generationen steht bevor.“ Falsch.

Die empirische Forschung zeigt: Weder in Familie und Zivilgesellschaft noch in der Politik nehmen die Gegensätze zwischen den Generationen stärker zu als der Zusammenhalt zwischen ihnen. Außerdem: Das Alter ist eine Lebensphase, die alle erreichen möchten. Insofern würde man als Junger in einem Kampf der Generationen in gewisser Weise gegen sich selbst kämpfen. Diese Fakten und Überlegungen verhindern natürlich nicht, dass das gegenseitige Vorurteilsgemisch sich hin und wieder äußert.

Legende 14: An den demographischen Wandel muss sich unsere Gesellschaft durch Seniorenpolitik anpassen“. Falsch.

Politik für Alte muss sich auf den ganzen Lebenslauf ausrichten. Denken wir vom Alter her, müssen wir das Gesamtsystem verändern - zum Wohle aller. Versuchen wir zum Beispiel nicht die frühen Bildungsprozesse zu optimieren, rächt sich das ein Leben lang, bis ins hohe Alter hinein. Wenn wir uns nicht um die Optimierung unsres Humanvermögens und damit der Produktivität kümmern, dann fehlen die Ressourcen zur Finanzierung von Gesundheitsleistungen und Renten im Alter. Wenn man die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert, erhöht sich die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und damit die Produktivität, die wiederum wichtige Ressourcen für das Alter zur Verfügung stellt.

Legende 15: Alternde Gesellschaften sind reformunfähig“. Falsch.

Eher ist das Gegenteil der Fall: Im Hinblick auf die Reorganisation der Arbeitswelt, des Bildungssystems, der sozialstaatlichen Regeln u. a. enthüllt und verstärkt das demografische Altern den Reformbedarf; es erhöht den politischen Handlungsdruck. Falls sich die Institutionen und die Mentalitäten dieser Herausforderungen gewachsen zeigen, statt sie zu blockieren, ist die Beschleunigung von Neuerung und Anpassung, ist gesellschaftliche Dynamik die Folge.

Alle diese Legenden enthalten natürlich, wie es bei Legenden üblich ist, einen Teil von Wahrheit, die sich auf Erfahrung stützt. Beobachtete Langsamkeit, registrierbarer sog. Alterstarrsinn, Ängstlichkeit im Umgang mit Neuem usw. usw.

Bei der Beurteilung ihrer Bedeutung muss aber immer die statistische Relevanz berücksichtigt werden. Lebensalter - Bilder beeinflussen das Zutrauen der Menschen untereinander, aber auch zu sich selbst. Sie kritisch zu reflektieren ist mühsam, aber selbst ein Beitrag zur besseren individuellen, beruflichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bewältigung.

V. Altern und Politik

Auch über die politischen Folgen der alternden Gesellschaft wird heftig gestritten und mit manch vorurteilsbeladener Geste spekuliert. Die populärste ist die, dass die Älteren den Jungen zu teuer werden, zu hohe Renten beziehen und dies durch ihre potentielle Mehrheit bei demokratischen Wahlen auch durchsetzen werden.

Bei diesen Argumentationen wird nicht beachtet, dass die steigende Rationalisierung höhere Abgaben ermöglicht. Völlig unberechtigt ist der vermutete Vorwurf, die Älteren würden sich nur egoistisch altersinteressiert zeigen und sich dementsprechend politisch verhalten.

Alle Untersuchungen zeigen das Gegenteil. Themen wie Umwelt-, Außen- und Bildungspolitik werden von älteren Bürgern ebenso wichtig gehalten wie Sozial- und Rentenpolitik. Nur auf Altersthemen fixierte Parteien (z. B. Graue Panther) haben bisher keinen entscheidenden Einfluss gewinnen können. Die Älteren bleiben in der Regel ihren lebenslangen Wahlentscheidungen auch im Alter treu, sie werden eher etwas konservativer. Das quantitative Übergewicht der Älteren wird bei Wahlen noch dadurch verstärkt, dass die Jüngeren in hohem Maße den Wahlen fernbleiben. Das Pflichtgefühl, zur Wahl zu gehen, ist ein hohes Gut, mit dem man pfleglich umgehen sollte. Der Sozialstaat wird nicht prinzipiell in Frage gestellt. Und die Unterstützung der jüngeren Generation überwiegt die Inanspruchnahme der Jüngeren.

Allerdings wird es notwendig sein, die jüngeren Alten (60 - 75/80) intelligent, kräftegemäß und flexibel am Arbeitsleben zu beteiligen.

Bei allen notwendigen Anpassungen des Sozial- und Rentensystems gilt es vor allem darauf zu achten, dass die Haupterrungenschaft des 20. Jahrhunderts verteidigt wird, nämlich das Abrutschen großer Teile der älteren Bevölkerung und bedrückende Armut oder gar Elend zu verhindern. Die Gefahr besteht deswegen, weil die prekären Teilzeit- Arbeits- Verträge in den letzten 15 Jahren beständig zugenommen haben und damit die Anwartschaft auf ausreichende Renten geschmälert wird.

Es ist übrigens nicht nur so, dass es ein Exklusionsproblem von Alten gibt. Von großer Wichtigkeit ist das Neudurchdenken des ehrenamtlichen Einsatzes vieler Älteren. Wir sind Zeugen eines sich immer mehr beschleunigenden und sich spezialisierenden Arbeitslebens. Wir erleben auch, dass viele Menschen in mehreren Jobs arbeiten müssen, um sich und ihre Familie ernähren zu können.

Die im Arbeitsleben stehenden Menschen haben immer weniger Zeit, sich um Probleme außerhalb ihrer privaten und beruflichen Welt zu kümmern. Dies nur als Egoismus zu diffamieren, verwechselt Ursache und Wirkung.

Der gemeinwohlorientierte, dem Gemeinwesen sich verantwortlich fühlende Bürger verliert an Kraft und Attraktivität. Der Zusammenhalt der Gesellschaft scheint gefährdet.

Aber das ehrenamtliche Engagement der Älteren ist in Bereichen tätig, das außerhalb des zerstörerischen Egoismus wirksam ist. Sportliche, humane, soziale, kulturelle, bildungsorientierte u. a. Tätigkeiten werden kostenfrei übernommen. Eine Gesellschaft ohne dieses Netzwerk wäre arm und unmenschlich. Die Älteren spielen damit eine unverzichtbare Rolle in der Konstituierung der demokratischen Gesellschaft. Sie sind die Garanten einer gesamtgesellschaftlichen Inklusion. Ihre Förderung ist ein integraler Bestandteil zur inneren Stabilisierung der Demokratie. Sie sind der aktive und unbestechliche Teil einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr in der ökonomischen Logik der Renditensteigerung verliert.

Die Inklusion der Alten in die Gesellschaft ist unter diesen Blickwinkeln ein Unterthema der Inklusion insgesamt.

Denn auch die Anliegen der Pflegepatienten, der Heimbewohner, der Demenzkranken und anderer in ihrer Autonomie eingeschränkter Personen, müssen wirksam vertreten werden. „Die Alterung der Bevölkerung erinnert daran, dass sozialer Zusammenhalt nicht allein auf Interessen gegründet sein kann, sondern grundsätzlich auch eine Frage von Solidarität und Moral ist.“ („Gewonnene Jahre...“ S. 102 )

VI. Kritische Fragen

Unabhängig von den unter II. genannten Bereichen und politischen Handlungsoptionen gilt es den Willen zu kommunizieren, den älter Werdenden eine aktive und positive Rolle zuzuschreiben, die nicht als Konkurrenzunternehmen den Jüngeren gegenüber missverstanden werden darf. Die Tugenden der Älteren für Arbeit und Kommunikation müssen so eingesetzt werden, dass deren Wirksamkeit erkennbar und anerkannt wird.

Dabei sind durchaus kritische Fragen zu stellen. Z. B. wird in der Gesellschaft zu wenig diskutiert, dass es ein Unglück ist, wenn Ältere nicht loslassen können und den Jüngeren nicht die notwendigen Freiräume gewähren. Es gibt durchaus Ältere, die weit über das Kindesalter hinaus ihre Kinder bevormunden wollen und dies auf alle Jüngeren übertragen.

Umgekehrt gilt beispielsweise auch für die Politik, dass es keine anerkannten Methoden gibt, den bei älteren Politikern gesammelten Sachverstand und Verhaltens- Erfahrungs- Schatz in der Politik weiter wirksam sein zu lassen, ohne die Verantwortung der Jüngeren anzutasten. Das gilt für alle Parteien. Es grenzt an politischer Ressourcenverschwendung, wenn nicht nur die Doppelgleisigkeit der Eliten (in Regierungsanhänger und Oppositionelle) gepflegt wird, sondern die Parteien selbst auf authentisches Personal verzichten und Beratung bei unerfahrenen teuren Agenturen einkaufen.

Es muss selbstverständlich werden, dass die Mitarbeit von Älteren nicht die Karriere- oder Beförderungschancen der Jüngeren schmälern darf. Das brächte sozialen und generationellen Unfrieden.

Die Einrichtung sog. Seniorenprofessuren zeigt den richtigen Weg. Seniorenberater in Wirtschaftsbetrieben, pensionierte Lehrerinnen und Lehrer für besondere Hilfsprojekte, ausgeschiedene Erzieherinnen in Spieleinrichtungen usw. geben den Weg an.

Die vorstehenden Überlegungen und Beobachtungen beziehen sich im Kern auf die sog. jüngeren Alten. Ihre körperliche und intellektuelle Potenz und gesellschaftliche Kraft gilt es zu nutzen.

Die Alten, die durch Krankheit oder tatsächlichen körperlichen Kraftverfall das Bewusstsein vom Alt-Sein insgesamt prägen, stellen in Zukunft nicht die Mehrheit. Ihre Probleme in Gesundheit, geistiger Präsenz, Beweglichkeit und Betreuungsnotwendigkeit sind real, aber in einer humanen Gesellschaft eine selbstverständliche gesellschaftliche Aufgabe.

Anmerkungen und Literaturhinweise:

  1. Schlussbericht der Enquete- Kommission

„Demographischer Wandel. Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“.

Deutscher Bundestag Drucksache 14/8800 vom 28. 3. 2002.

  1. Bericht der Enquete- Kommission „Demographischer Wandel- Herausforderungen an ein zukunftsfähiges Niedersachsen.

Niedersächsischer Landtag 2007.

  1. „Gewonnene Jahre, Empfehlungen der Akademiengruppe Altern in Deutschland“ NOVA ACTA LEOPOLDINA, Neue Folge, Nummer 371, Band 107, Stuttgart 2009.
  2. Ernst Kistler: “Gute Arbeit und lebenslanges Lernen - Das Versagen der Weiterbildung in Deutschland“, Friedrich- Ebert- Stiftung, Bonn 2010.

Vorstand

Bernd Busemann
Vorsitzender, Vizepräsident und Landtagspräsident a.D.

Ulla Groskurt
Schatzmeisterin

Cornelia Rundt
Stellvertretende Vorsitzende, Landesministerin a.D.

Eva Viehoff
Beisitzerin, MdL

Hans-Werner Schwarz
Beisitzer, Vizepräsident a.D.