Osterholz
Die diesjährige "kleine Reise" der Parlamentarischen Vereinigung Niedersachsen (PVN) führte am 18./19. Mai 2016 in das nördliche Bremer Umland - in den Landkreis Osterholz, nach Worpswede mit der Künstlerkolonie und dem Teufelsmoor sowie nach Bremerhaven. 34 Teilnehmer hatten sich bei schönem Reisewetter mit dem Omnibus des Reiseunternehmens Rinder aus Barsinghausen auf die Fahrt begeben. Sie wurden zunächst in der Kreisstadt Osterholz-Scharmbeck vom dort seit zweieinhalb Jahren amtierenden Landrat Bernd Lütjen im schmucken Kreishaus des Landkreises Osterholz empfangen. "Sie kommen in einen relativ kompetenten Landkreis, der allerdings schwach auf der Brust ist", sagte der SPD-Politiker zur Begrüßung.
Er berichtete weiter, der 650 Quadratkilometer große Landkreis mit seinen rund 112.000 Einwohnern profitiere als sogenannter Verdichtungsraum allerdings durch die Randlage vom Oberzentrum Bremen. Das gelte besonders für die im Speckgürtel liegenden Gemeinden Schwanewede, Ritterhude und Lilienthal, die ihre Einwohnerzahlen durch Zuzüge aus Bremen erheblich steigern konnten, während die Gemeinden im zweiten Umlandring immer mehr Einwohner verlieren. So ist auch der Arbeitsmarkt mit der wirtschaftlichen Entwicklung Bremens eng verbunden, weil viele Beschäftigte in die Großstadt pendeln. Die Pendlerquote beträgt fast 15 Prozent. Besonders stolz ist Landrat Lütjen, dass die Arbeitslosenquote nur 3,9 Prozent beträgt und ebenso, dass das Kreiskrankenhaus Osterholz und die Residenzkliniken Lilienthal schwarze Zahlen schreiben und dass das Kontaktzentrum eine Servicegarantie dafür bietet, dass die Bewohner im Durchschnitt nur 20 bis 30 Minuten beim Besuch eines Bürgeramtes in 20 Bereichen der Verwaltung, wie Kfz-Zulassungsstelle oder Passstelle, zu warten brauchen. Rund 580 Mitarbeiter garantieren für diese Dienstleistungen.
Auch mit dem Breitbandkompetenzzentrum ist der Landkreis Osterholz ein Vorbild für ganz Niedersachsen, betonte der Landrat. Im Übrigen gehen die Millionenbeträge von "geblitzten" Autofahrern nicht in den allgemeinen Haushalt, sondern vorwiegend in die Verkehrserziehung, auch für die Feuerwehr, den ADAC usw. Der Kommunalpolitiker ließ nicht unerwähnt, dass in seinem Landkreis jährlich 30 Schützenfeste stattfinden und dass vor allem Worpswede mit der Künstlerkolonie und das Teufelsmoor heute die großen touristischen Anziehungspunkte und weltweit bekannt sind.
Der Kreistag Osterholz, in dem die SPD mit 17, die CDU 13, die Grünen mit 10, die Wählergemeinschaft mit 3, die Linken mit 2, die FDP mit einem Abgeordneten sowie ein "Querdenker" vertreten sind und der von einer Koalition aus SPD und Grünen "regiert" wird, tagt durchschnittlich viermal im Jahr.
Nach einer anschließenden Diskussion, in der Landrat Lütjen auf alle Fragen eine Antwort wusste, dankte der Vorsitzender der Parlamentarischen Vereinigung, Ulrich Biel, dem Gastgeber und betonte, dass den Reiseteilnehmern, die meistens selbst auch Kommunalpolitiker sind oder waren, die Sorgen und Nöte, aber auch die politischen Gestaltungsmöglichkeiten und gelegentliche Erfolgsgefühle bekannt sind, und dass es für alle Parteien viel Arbeit und Mühe gibt, immer wieder geeigneten "Nachwuchs" für das kommunalpolitische Mandat zu bekommen.
Worpswede
Die zweite Station der kleinen Reise der PVN war Worpswede im Teufelsmoor, vor allem wegen seiner Künstlerkolonie des ausgehenden 19. und folgenden 20. Jahrhunderts bekannt. Die Besucher waren beeindruckt einmal vom Ort selbst, von einer Gemeinde im Grünen mit großen Buchenwäldern mitten im Ortskern, mit naturerhaltendem Charakter, mit sauberen Straßen und schmucken Häusern, die die Handschrift berühmter Architekten zeigen, idyllisch und romantisch, stimmungsvoll und beschaulich besonders in der Frühlingszeit, zum anderen von der ungewöhnlichen Atmosphäre der Künstlerkolonie mit den historischen Bauten und hinterlassenen Kunstwerken.
Die Führung durch die Gemeinde mit den schönsten und berühmtesten Sehenswürdigkeiten des Ortes und dem Museumsbesuch war für zwei Stunden angesetzt. Man hätte getrost den ganzen Tag brauchen können, vor allem wenn man eine solche kompetente und eloquente Fremdenführerin hat wie die Kulturwissenschaftlerin Daniela Platz, die ihre Heimatgemeinde der vergangenen 150 Jahre so charmant präsentierte, als ob sie schon immer dabei gewesen wäre. So erfuhren die Besucher, dass 1750 mit der Trockenlegung des Moores und dem Ende des Torfabbaus die Kolonisierung begann und 1889 sich die Künstlerkolonie gründete mit so berühmten Namen wie Heinrich Vogeler, Fritz Mackensen, Paula Modersohn-Becker und vielen anderen. Beeindruckend war der "Barkenhoff", der von Heinrich Vogeler 1895 gekaufte und zum Jugendstilgebäude umgebaute Bauernhof, der der Mittelpunkt der Worpsweder Künstlerbewegung und der gesamten Künstlerkolonie werden sollte. Der zeitweise völlig verfallene Hof wurde 2003/2004 grundlegend renoviert und ist heute das Museum mit viel Raum für Ausstellungen. Großes Interesse fand auch die Worpsweder Kunsthalle, ein ehemaliges Ladengeschäft des Buchbindermeisters Friedrich Netzel, das er Anfang des 20. Jahrhunderts den ersten Künstlern und Malern zur Verfügung gestellt hatte und das seine Nachkommen in dritter Generation weitergeführt haben mit Werken der ersten und zweiten Künstlergeneration und Ausstellungen z.B. von Paula Modersohn-Becker anlässlich ihres 100. Geburtstages 1976 oder der 100-Jahr-Feier des Künstlerdorfes 1989.
Zu einem großen Backsteinensemble gehört unter anderem auch das Kaffee Worpswede, ein expressionistischer Bau des Bremer Architekten, Baumeisters, Künstlers und Bildhauers Bernhard Hoetger, der es ohne vernünftige Bauzeichnungen und ohne rechte Winkel errichtete, so dass die Worpsweder sagten: "Dei is verrückt, de Kerl!". Sie nannten das komische Objekt einfach "Café verrückt". Und dann ging es rauf auf den Weyerberg, mit 54 Metern über NN die höchste Erhebung des Ortes, wo mitten im Siebenjährigen Krieg die Zionskirche mit finanzieller Unterstützung des Kurfürsten von Hannover und Königs von England, Georg II., erbaut worden ist. Die Kunstführerin machte die Besucher in der schlichten Saalkirche auf Engelsputten unter der Emporendecke und Blumenornamenten in den Zwickeln der Säulen aufmerksam. Es waren nämlich, wie sie in einer Anekdote erzählte, "Strafarbeiten" der damaligen Kunstschülerinnen Paula Modersohn-Becker und Clara Rilke-Westhoff, die im Jahr 1906 aus Schabernack die Kirchenglocken geläutet hatten, so dass die Bevölkerung an einen Feueralarm glaubte und die Feuerwehr ausrückte. Ein Jahr später ist Paula Modersohn-Becker mit 31 Jahren gestorben. Bernhard Hoetger hat für sie zwischen 1916 und 1919 ein Grabmal mit einer lebensgroßen, halbnackten Frauenfigur geschaffen, mit einem kleinen nackten Kind auf dem Schoß. Es übt auf dem Worpsweder Friedhof eine besondere Anziehungskraft aus.
Nicht unerwähnt blieb die politische Geschichte der Worpsweder Künstler im 3. Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Nachdem die Gemeinde bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 schon zu 66 Prozent die NSDAP gewählt hatte, wurde diese Strömung durch den Heimat- und Naturkult der Worpsweder Künstler noch verstärkt, besonders von Fritz Mackensen, Carl Uphoff und Martha Vogeler, die der völkischen Idee huldigten. Dagegen waren politisch Linke wie Heinrich Vogeler und Gustav Regeler, der Vogelers Tochter Marie geheiratet hatte, in die Emigration nach Moskau getrieben worden.
Voll gestopft mit vielen neuen Eindrücken und Erlebnissen beendeten die niedersächsischen Besucher einen außerordentlich interessanten Rundgang.
Torfkahn-Fahrt mit Kaffee und Kuchen
Auch der Nachmittag mit einer zweistündigen Segel- und Motorfahrt in drei nachgebauten Torfkähnen auf dem Hamme-Oste-Kanal und angrenzenden Seitenarmen im Teufelsmoor mit Kaffee und Kuchen "auf die Hand" an Bord wurde zu einem einmaligen unvergesslichen Erlebnis. In launigen Worten erzählte der Käpt'n den Gästen viel Wissenswertes über den Jahrhunderte alten Torfabbau und die Überlebenskunst der Torfbauern vom Mittelalter bis in die Neuzeit nach dem Motto: "Die erste Generation den Tod, die zwei Generation die Not, die dritte Generation das Brot."
Ein gemeinsames Abendessen mit anschließendem gemütlichen Beisammensein mit "Moorwasser" und "Torfschluck" ließen in den Gesprächen die wunderbaren Ereignisse dieses interessanten und erlebnisreichen Tages im Teufelsmoor und in der Künstlerkolonie noch einmal Revue passieren.
Bremerhaven
Der zweite Tag der kleinen Reise gehörte der Stadt Bremerhaven. Im Mittelpunkt standen der neue Fischereihafen und das Deutsche Auswandererhaus. Es war 2005 eröffnet worden und sucht auf der Welt seinesgleichen. Es ist ein Erlebnismuseum, das sich durch die Verbindung von Historie sowie aktuellen Berichten von Aus- und Einwanderungen zum ersten Migrationsmuseum Deutschlands entwickelt hat. Es ist schon frappierend, wie die Besucher mit der Eintrittskarte, die gleichzeitig eine digitale i-Card ist, beim Rundgang durch das Museum während ihrer Zeitreise bei allen Computer- und Hörstationen Zugang zu allen Informationen erhalten. Man wird nicht nur über die Familiengeschichte der einzelnen Aus- und Einwanderer, die man während des Rundgangs begleitet, aufgeklärt, sondern erhält auch Einblicke in die entsprechenden Epochen, Schicksale und Hintergründe der Geschehnisse der jeweiligen Orte und Zeiten. Dabei werden in 34 realen Familienschicksalen rund 300 Jahre Aus- und Einwanderung ebenso emotional wie informativ vermittelt. Persönliche Schriftstücke wie Briefe, Postkarten, Tagebücher, Dokumente, Reiseunterlagen, dazu Einwanderungsurkunden, Ausweise oder Reisepässe, Fotos aus der alten und neuen Heimat und viele weitere Erinnerungsstücke illustrieren die Schicksale der Auswanderer. Neben dem 1852 eröffneten neuen Hafen, von dem bis 1890 allein 1,2 Millionen Auswanderer in die Neue Welt abfuhren, verließen über den alten Hafen, die Kaiserhäfen und die Columbuskaje seit 1683 insgesamt 7,2 Millionen Männer, Frauen und Kinder Bremerhaven in eine ungewisse Zukunft.
Die niedersächsischen Besucher waren außerordentlich beeindruckt vom Deutschen Auswandererhaus, das 2007 vom Europäischen Museums Forum für sein innovatives Ausstellungskonzept mit dem bedeutenden "European Museum of the Year Award" als bestes Museum Europas ausgezeichnet wurde.
Fischereihafen
Dass Bremerhaven in diesem Stadtteil seinem Namen gerecht wird und noch viel mehr zu bieten hat, erläuterte die Stadtverordnetenvorsteherin Brigitte Lückert den niedersächsischen Gästen der Parlamentarischen Vereinigung. Sie erfuhren, dass 1830 der alte Hafen fertiggestellt wurde, bis 1852 der neue Hafen dazukam und die Stadt bis 1854 zum größten Auswandererhafen Europas geworden war. Nachdem im letzten Weltkrieg die Hafenanlagen durch Bombenangriffe der Alliierten arg zerstört worden waren, wurden alte Fahrgastanlagen abgerissen und ab 1962 neue Fahrgastanlagen wieder aufgebaut, einschließlich des Containerterminals mit knapp fünf Kilometer Länge.
Aber auch die Hochseefischerei wurde hier Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und 1896 der erste Fischereihafen in Betrieb genommen. Wie sich gerade der neue Fischereihafen auf einer ehemaligen Industriebrache besonders in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, konnten die Besucher bei schönem Wetter in einem Rundgang durch das "Schaufenster Fischereihafen" und den Fischbahnhof erkunden, einschließlich einer Vorführung im Seefischkochstudio.
Am Ende des Besuchs in Bremerhaven stand für die Niedersachsen die einhellige Meinung fest: Es war wieder eine großartig gelungene, erlebnisreiche und informationsreiche Reise. So konnte die Heimreise im Omnibus angetreten werden in dem Bewusstsein, es hat sich gelohnt. Überpünktlich wurde der Busbahnhof in Hannover erreicht. Dem PVN-Vorstand, den Reiseorganisatoren und Reise-betreuern Udo Mientus und Sabine Sonntag sowie Edda Goede vor Ort sei Dank! Rolf Zick